Nicht jedes (auch längere) Stimmungstief ist eine Depression
Es scheint so, als würde eine Krise für uns Deutsche direkt in die nächste übergehen. Die Corona-Pandemie entspannt sich, und auf einmal ist Krieg in Europa. Wir alle spüren, dass wir –wenn die Politik nicht die richtigen Schritte wählt – mittendrin sein könnten in dieser Katastrophe. Erneut erlebe ich in meiner Praxis, dass das etwas macht mit den Menschen. Viele haben Angst, schlafen schlechter, und einige Menschen haben direkte oder indirekte Familienangehörige in der Ukraine oder in Russland, um die sie sich sorgen. Dass wir in Situationen, die wir als bedrohlich empfinden, Angst haben, ist ganz normal – und genau genommen sogar gut. Angst oder Befürchtungen führen dazu, dass wir uns überlegen, wie wir uns schützen können.
Es ist in den letzten Jahren modern geworden, Stimmungstiefs leicht als Depression zu bezeichnen. Dass heute über psychische Krankheiten in der Öffentlichkeit gesprochen und auf niemanden mehr mit dem Finger gezeigt wird, der eine Psychotherapie macht, ist gut. Andererseits ist es normal, dass ein Mensch auch einmal über mehr als zwei Wochen die Freude an seinem Alltag verliert, schlecht schläft, weniger aufmerksam ist als gewohnt und Angst vor der Zukunft hat, wenn er in einer bedrohlichen Situation ist, den Partner verliert, arbeitslos wird oder Angst um das Leben von Angehörigen hat, die sich plötzlich mitten in einem Krieg befinden.
Lassen Sie sich von niemanden einreden, Sie hätten eine Depression, nur weil Sie schon wegen Corona besorgt waren und es jetzt wegen des Konfliktes in der Ukraine erneut sind. Und nehmen Sie erst recht deswegen kein Antidepressivum. Die meisten Antidepressiva greifen in den Serotonin-Stoffwechsel ein. Ob der aber für Stimmungstiefs oder für manifeste Depressionen eine Rolle spielt, ist bis heute umstritten. Antidepressiva haben in schweren Krankheitsfällen ihre Berechtigung. Die Einnahme muss aber in jedem Fall gut überlegt und begründet sein. In meiner täglichen Arbeit erlebe ich zudem immer wieder, dass ein Absetzen dieser Medikamente schwierig ist. Die Hersteller sprechen beschönigend von Absetzsyndromen, für mich sind es Symptome von Abhängigkeit.
Eine gute Therapie garantiert ohne negative Nebenwirkungen ist auch jetzt wieder Bewegung. Gehen Sie jeden Tag an die frische Luft, auch wenn Sie einen langen Arbeitstag haben. Dass ich an dieser Stelle gerne Sport propagiere, wissen Sie, wenn Sie meine Kolumne regelmäßig lesen. Übrigens kann Sport auch abhängig machen – aber im besten Sinne. Und, überlegen Sie sich, ob Sie wirklich jeden Zeitungsartikel über das Geschehen in der Ukraine lesen müssen, und ob Ihnen Nachrichten- und Sondersendungen über den Krieg wirklich helfen. Es ist schrecklich, was dort passiert. Spenden Sie an Organisationen, die sich für die Menschen engagieren, aber sorgen Sie auch für sich selbst, indem Sie sich bewusst mit Dingen beschäftigen, die für Sie entspannend und angenehm sind.