Gewalt ist auch ein Frauenthema
Der 32 Jahre junge Mann, der mir gegenüber sitzt, ist erleichtert. Endlich hat er es geschafft, sich von seiner Freundin zu trennen. Nach vier quälenden Jahren. Schon kurz nachdem die beiden ein Paar geworden waren, hat er registriert, dass seine neue Lebensgefährtin cholerisch ist, ihre Emotionen nicht im Griff hat und laut wird, wenn sie sich im Unrecht fühlt. Nach einigen Wochen ist sie das erste Mal mit Fäusten auf ihn losgegangen. Er war davon völlig überrascht, weil das Thema, über das sie gesprochen haben, für ihn keinerlei Konfliktpotenzial barg. In den folgenden Monaten und letztlich vier Jahren sind solche Situationen immer wieder aufgetreten. Schließlich hätte sie ihn auch regelrecht verprügelt. Ob er sich denn nicht gewehrt hätte, frage ich ihn. Nein, antwortet er, das wäre für ihn nicht infrage gekommen. Er hätte dann regelmäßig die Flucht ergriffen und die gemeinsame Wohnung verlassen. Warum er sich nicht früher von ihr getrennt hätte, möchte ich weiter wissen. „Weil ich sie geliebt habe“, berichtet er mir, und erzählt dann, dass er sie ansonsten als einen tollen Menschen empfunden hätte. Fast geknickt fügt er hinzu: „Vielleicht liebe ich sie heute noch – aber ich will das nicht mehr.“
Schließlich erwähnt er noch, dass sie immer wieder versprochen hätte, sich zu ändern.
Gewalt ist ein regelmäßiges Thema in unserer Gesellschaft. Die Verteilung der Täter- und Opferrollen ist dabei in aller Regel selbstverständlich. Täter sind Männer, Opfer sind Frauen. Mich ärgert das, weil das so nicht stimmt. Aus den Studien, die sich mit Gewalt von Frauen beschäftigen, ist bekannt, dass auch sie körperliche Gewalt anwenden, auch gegen Männer. Sogar sexuelle Gewalt von Frauen gegen Männer gibt es. Die Autoren dieser Studien (interessanterweise häufig Frauen) stellen am Ende ihrer Untersuchungen oft fest, dass es dazu weitere Forschung geben sollte. Denn während es eine Flut von Studien über Gewalt von Männern gibt, ist die Anzahl der Studien über Gewalt von Frauen vergleichsweise gering. Das Thema ist politisch offensichtlich nicht erwünscht.
Auch aus meiner täglichen Arbeit weiß ich, dass Frauen keineswegs friedlicher sind als Männer. Einer der größten Stressoren ist für viele Menschen der Arbeitsplatz. Uneinigkeiten und zermürbende Streitereien bis hin zu psychischer Gewalt gehören für erschreckend viele Zeitgenossen zum regelmäßigen Erleben. Lege ich die Erfahrung aus meinen Gesprächen zugrunde, dann sind Frauen ähnlich häufig Aggressoren wie Männer.
Fazit: Es ist gut, dass Gewalt in unserer Gesellschaft heute ein Thema ist. Es ist aber nicht in Ordnung, dass wichtige Facetten davon ausgeblendet werden, nur weil sie nicht zum Zeitgeist passen. Körperliche und psychische Gewalt von Männern gehört diskutiert und ist nicht hinnehmbar – körperliche und psychische Gewalt von Frauen muss aber in der gleichen Form diskutiert werden und ist ebenso wenig hinnehmbar!